Geht es bei Social Media noch um das Erleben oder nur um die Darstellung des Erlebten? Und wie können wir uns dem Druck des Vergleiches und der Selbstoptimierung entziehen, der beim Anschauen von Social Media-Beiträgen entsteht? Kann uns Achtsamkeit dabei helfen?
Gerhard Schulze und die Erlebnisgesellschaft
Die Soziologie ist der Fachbereich, der sich unter anderem mit der Analyse der Gesellschaft beschäftigt. Es werden gerne plakative Begriffe verwendet, um die Gesellschaft zu beschreiben. Darunter fallen beispielsweise Industriegesellschaft, Leistungsgesellschaft und Risikogesellschaft. Ein weiterer populärer Gesellschaftsbegriff ist die sogenannte Erlebnisgesellschaft – geprägt von Gerhard Schulze.
„Hab ein geiles Leben!” als zentraler Imperativ unserer Zeit
In der Erlebnisgesellschaft werden Konsum und Freiheit, Individualisierung und Lifestyle als prägende Werte und Bedürfnisse gelebt. Auch und gerade weil Waren, Produkte und Dienstleistungen im Überfluss vorhanden sind. Produkte und Dienstleistungen werden laut Schulze genutzt, um bestimmte Gefühle und Zustände zu erzeugen. Ein interessantes Leben zu haben, stehe heute an erster Stelle. Und genau das sei der zentrale Imperativ unserer Zeit. „Hab ein tolles Leben!” wird uns ständig direkt und indirekt vermittelt.
Fakt ist, dass wir heute fast unendlich viele Optionen und Wahlmöglichkeiten haben. Wichtig sei die Unterscheidung, was wir wirklich wollen – und genau auf diese Frage, so Schulze, bekämen wir keine klaren Antworten mehr. Vielleicht sollten wir uns genau diese Frage stellen. Schulze spricht auch den hohen psychologischen Druck an, dass jeder ein glückliches und schönes Leben führen möchte.
„Denken heißt vergleichen.“
Die krampfhafte Suche nach dem individuellen Lebensglück ist laut Schulze auch ein Grund für die hohen Trennungs- und Scheidungsraten, für Rastlosigkeit und Langeweile. Wir sind also – auf einem sehr hohen Niveau – unzufrieden, weil wir uns auch ständig mit anderen Menschen vergleichen.
„Denken heißt vergleichen.“ lautet ein Zitat von Walther Rathenau. Vielleicht ist das der Schlüssel? Wenn ich weniger denke, vergleiche ich mich weniger mit der Umwelt und bin endlich frei? Aber geht das überhaupt? An nichts zu denken und im Jetzt zu leben, so dass ich nicht mehr bewerte und in gut und schlecht einteile? Im Laufe meiner Überlegungen bin ich auf den Trend der Achtsamkeit gestoßen und habe mit Max gesprochen, der sich seit einigen Jahren damit beschäftigt.
Achtsamkeit als Schlüssel? Interview mit Max
Franziska: Max, du beschäftigst dich mit dem Thema Achtsamkeit. Erstmal: Was bedeutet Achtsamkeit für dich?
Max: Für mich hat Achtsamkeit mit zwei Dingen zu tun. Das eine ist die Gedankenlosigkeit: Man versucht nicht zu denken und es gelingt einem. Und zweitens die Präsenz: wirklich mit allen Sinnen in eine Umgebung einzutauchen.
Wenn man zum Beispiel durch den Wald geht, dass man den Wald spürt, auch mit den Füßen, mit den Händen, man riecht ihn, man schmeckt ihn oder man sieht das saftige Grün, die vielen Variationen von Grün und man hört ihn natürlich auch.
Und das Ganze macht man eben ganz präsent, ohne sich dabei irgendwelche Gedanken zu machen. Das ist für mich die Definition von Achtsamkeit.
Der Weg zur Achtsamkeit: Max‘ Schlüsselerlebnis und Veränderungen
Franziska: Und wie bist du zur Achtsamkeit gekommen? Gab es ein Schlüsselerlebnis oder Lebensumstände, die dich dazu gebracht haben?
Max: Ja, ich hatte vor vielen Jahren ein Schlüsselerlebnis, als ich meine Freunde in Bayreuth besuchte. Wir wollten zusammen ins Kino gehen. Vorher haben wir noch etwas gegessen, und als wir dann im Kino waren, habe ich gemerkt, dass mir schlecht war und etwas nicht stimmte. Die Situation war ziemlich stressig für meinen Körper, weil ich im Kino war und nicht wusste, was ich machen soll. Natürlich bin ich dann auf die Toilette gegangen. Ich musste mich zwar nicht übergeben, aber letztendlich hatte ich nach diesem Ereignis immer wieder Probleme in einer vollen Umgebung. Dort, wo kein Ausgang in der Nähe war, hatte ich Probleme, zu verweilen.
Ich hatte Angstzustände bekommen und Panikattacken. Ich hatte feuchte Hände und mein Puls ging in die Höhe, wie man es von Panikattacken kennt. Das wiederholte sich in vollen Zügen und in öffentlichen Verkehrsmitteln. Das war kein lebenswerter Zustand, das war einfach grausam. Und da musste ich unbedingt etwas ändern. Dass mein Körper wieder merkt, dass diese Situationen nicht gefährlich sind und dann habe ich mich mit vielen Dingen beschäftigt, unter anderem auch mit dem Thema Achtsamkeit.
Achtsamkeit im Alltag: Tipps und Übungen von Max für mehr Präsenz
Franziska: Und wie kann man Achtsamkeit trainieren? Welche Übungen kannst du empfehlen, um aus dem Hamsterrad, aus dem Grübeln oder auch aus der Panikattacke herauszukommen?
Max: Ja, letztendlich muss man genau die zwei Sachen trainieren, die ich am Anfang gesagt habe. Also eben die Gedankenlosigkeit und die Präsenz. Und dafür gibt es viele Methoden, vielleicht die beste Methode ist die Meditation. Aber es gibt auch Atemübungen zum Beispiel von Wim Hof, die kann ich nur empfehlen, die haben mir auch sehr geholfen. Ja, und das Alleinsein.
Zum Beispiel, dass man einfach mal alleine rausgeht. Es gibt viele Leute, die können kaum alleine sein. Also wirklich alleine. Ich rede nicht davon, mit Hunden oder Kindern oder dem besten Freund rauszugehen. Wenn man in Begleitung ist, nimmt das die Achtsamkeit.
Ich glaube, es gibt nichts Schlimmeres, als mit dem Hund rauszugehen, weil die Achtsamkeit immer beim Hund ist. Auch wenn man draußen in der Natur ist und denkt, man tut sich was Gutes. Das ist auf jeden Fall was ganz anderes, als wenn man wirklich alleine draußen ist. Dann geht man durchs Gras, man hört das Gras, man spürt das Gras an den Beinen.
Ja, diese Achtsamkeit muss man wirklich trainieren. Das ist auch ein Begriff, der von vielen Leuten relativ inflationär verwendet wird, dass sie meinen, sie sind jetzt achtsam, weil sie mal zehn Sekunden auf der Parkbank sitzen und merken, sie sitzen auf der Parkbank und machen mal gar nichts. Aber das ist vielleicht das erste Level von vielleicht 3.000 Leveln. Das ist so, wie wenn ich jetzt sage: „Ach, spiel doch mal Golf“ und ich denke, ich spiele super Golf und dann versuche ich den Ball zu treffen und versenke den Schläger erst mal im Boden. Man muss es als Sport sehen, man braucht seine Trainingseinheiten. Und dann wird man immer besser.
Franziska: Und wie oft machst du das im Alltag?
Max: Damit ich auf ein Level komme, mit dem ich zufrieden und im Flow bin, brauche ich drei Trainingseinheiten pro Woche. Das heißt, ich brauche drei Übungen, zum Beispiel eine Meditationsübung oder eine Atemübung. Dann schweifen meine Gedanken nicht so ab, sondern ich bin fokussiert und nehme auch meine Umgebung so wahr, wie ich es möchte.
Die Entfaltung durch Achtsamkeit: Glück ohne Besitz
Franziska: Und was genau bringen dir die Achtsamkeitsübungen? Was hat sich dadurch in deinem Leben verändert?
Max: Erstmal sind die Panikattacken weggegangen, ich habe es wieder geschafft, meinen Körper so zu programmieren, dass er nicht denkt, dass ein voller Raum mit Menschen eine Stresssituation für ihn ist.
Ja, und letztendlich ist ein achtsamer Zustand ein Zustand, in dem die Arbeit auch Spaß macht. Also, wenn man achtsam Geschirr spült, kann man viel Spaß haben, obwohl es immer noch Geschirr spülen ist. Beim Abspülen fasst man mit den Händen verschiedene Formen an, man hat das Wasser, das auch noch rauscht, man hat auch noch einen Lappen. Also, wenn man sich wirklich darauf einlässt, dann kann Abspülen mehr Spaß machen als eine Spülmaschine zu benutzen. (lacht)
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Achtsamkeit die Entkopplung von Besitz und Glück mit sich bringt. Letztlich will jeder Mensch glücklich sein, für viele ist es der Sinn des Lebens. Aber für viele bedeutet Glück zuerst Besitz. Sie motivieren sich zu arbeiten, um dann Besitz zu erlangen und mit diesem Besitz glücklich zu werden.
Dann können sie sich beispielsweise schön einrichten, sie können sich hochwertige Nahrungsmittel kaufen, sie können in den Urlaub fahren. Aber zuerst müssen sie arbeiten, um Geld zu haben.
Mit einem achtsamen Lebensstil entkoppelt sich dieser Kreislauf. Man kann mit einem Bier oder einer Buttermilch auf der Parkbank sitzen und der glücklichste Mensch sein. Einfach die Leute beobachten, das Wetter spüren und gedankenlos in den Tag hineinleben. Das kann einen glücklicher machen, als viel zu besitzen. Man hat viel, aber nicht in Form von Besitz, sondern in Form von Glück.
Franziska: Kann man sich so dem Druck der Gesellschaft in gewisser Weise entziehen? Indem ich mich nicht ständig vergleiche, weil ich nicht in diesem Vergleichsdenken bin, sondern in der bewussten Wahrnehmung meiner Umwelt?
Max: Absolut ja, also man entzieht sich auf jeden Fall der Konsumgesellschaft. Man entzieht sich dieser Instagram-Vergleichsgesellschaft. Ohne jetzt die Gesellschaft schlecht reden zu wollen, aber man entzieht sich dieser Gesellschaft, ja.
Dem Druck der Gesellschaft entkommen
Franziska: Und hast du noch andere Tipps, wie man sich dem Druck der Gesellschaft entziehen kann?
Max: Dem Druck der Gesellschaft? Ja, wenn ich mich dem Druck der Gesellschaft entziehen will, dann entziehe ich mich am besten dieser Gesellschaft. (lacht) Also, dass ich mich von Instagram entferne. Instagram finde ich schon bedenklich. Jeder postet seinen aktuellen Besitz, sei es ein Teller mit Essen oder ein Moment im Hotel. Jeder ist darauf fokussiert, auch Momente zu teilen, die so eigentlich gar nicht entstehen. Gestern war ich im Hofgarten und da war eine Frau, die hat eindeutig für Instagram Fotos gemacht. Das war auf jeden Fall nicht so natürlich, wie die Situation eigentlich war, aber sie hat einfach versucht, ihr Bestes zu geben – für ihre Follower. (lacht)
Ja, wie kann man sich dieser Gesellschaft entziehen? Ich glaube nicht, dass man sich einer Gesellschaft entziehen sollte. Der Mensch ist ein Rudeltier und er braucht einfach die richtige Gesellschaft – also Leute, die auch so sind wie er, ohne sich von anderen Leuten zu entfernen. Und der Mensch sollte nicht glauben, dass er den richtigen Lebensweg hat und die anderen den falschen. Ich glaube, man braucht ein Rudel, um einfach zu sehen, was einem gut tut und was einem nicht gut tut. Letztendlich muss man sich selbst kennen lernen und das wirklich intensiv und das geht mit Achtsamkeit. Es gibt nichts besseres als sich selber kennen zu lernen mit Achtsamkeit.
Die aktuelle Gesellschaft in drei Worten
Franziska: Dieser Podcast ist ja ein Gesellschafts- und Kulturpodcast. Deshalb möchte ich dir die letzte Frage stellen, die ich zukünftig allen meinen Interviewgästen stellen werde. In drei Worten oder in einem Satz: Wie würdest du die aktuelle Gesellschaft beschreiben?
Max: Ich würde sagen: Diese Gesellschaft ist mehr verwickelt als entwickelt.
Franziska: Das ist interessant. Würdest du das bitte näher erläutern?
Max: Ja, wir denken immer, dass wir so großartig entwickelt sind, also vor allem die westlichen Länder denken, dass wir so weit entwickelt sind.
Aber ich glaube eher, dass sie vielmehr verwickelt sind und in gewissen Strukturen, die ihnen nicht gut tun, die ihnen Krebs bereiten, die ihnen Übergewicht bereiten, die ihnen mentalen Stress bereiten.
Auch wenn man sich den Glücksindex ansieht: Da fallen Länder auf, da wundert man sich, wie das sein kann. Die haben viel weniger als wir und können trotzdem glücklicher sein. Also, ja, Entwicklung heißt auf keinen Fall glücklich sein. Vielleicht Selbstentwicklung, ja.
Franziska: Vielen Dank!
Max: Gerne!
Das Interview wurde am 28. Mai 2022 von Franziska von Lehel geführt und für die schriftliche Fassung redigiert und gekürzt.
Quellen
- Gerhard Schulze (1992): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart
- bpb.de: Die Erlebnisgesellschaft – der kollektive Weg ins Glück?
- zeit.de: „Allein im Tun erfahren wir uns selbst”
- nzz.ch: Wie erlebt man mehr in seinem Leben?