Was wäre, wenn Aiwanger entlassen worden wäre?

aiwanger

Im August veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung (SZ) eine Recherche, die behauptete, dass Hubert Aiwanger, der aktuelle Vize-Ministerpräsident und Wirtschaftsminister in Bayern, als Schüler ein Flugblatt mit antisemitischen Inhalten verfasst habe. Aiwanger selbst wies den Vorwurf zurück und bestätigte lediglich, dass er einige Exemplare in seiner Schultasche hatte. Kurz darauf gestand Aiwangers Bruder, das Schriftstück verfasst zu haben. In den nächsten Tagen entstanden bundesweit Diskussionen, wobei auch Politiker aus dem Bundestag teilweise Aiwangers Rücktritt oder seine Entlassung forderten.

Um die Vollständigkeit zu wahren, sollte erwähnt werden, dass sich weitere Schüler meldeten und behaupteten, Aiwanger habe während seiner Schulzeit Judenwitze gemacht und den Hitlergruß gezeigt. Allerdings gab es auch ehemalige Mitschüler, die sich meldeten und Aiwanger in Schutz nahmen, indem sie angaben, kein rechtsextremes Verhalten in der gemeinsamen Schulzeit wahrgenommen zu haben.

Schlussendlich konnte nichts bewiesen werden. Aiwanger gestand lediglich ein, in der Jugend Fehler gemacht zu haben. Trotz der lauten Rufe nach Aiwangers Entlassung entschied sich Söder, ihn im Amt zu belassen, mit der Begründung, dass eine Entlassung unverhältnismäßig gewesen wäre. Er betonte, dass es darauf ankomme, wie sich Aiwanger aktuell verhält, und nicht darauf, was vor 35 Jahren geschehen ist.

DasWas-wäre-wenn-Szenario” mit der Akte Aiwanger

Ich fand es sehr interessant, dass dieses Thema bundesweit ein hohes Interesse einnahm – bei den Medien und den Politikern. Ich habe mir die Frage gestellt, was es für unsere Gesellschaft bedeutet hätte, wenn Söder Aiwanger doch entlassen hätte.

1. Angstgetriebene und sorgenvolle Sozialisation

Die Gesellschaft debattierte über einen nicht bewiesenen Vorfall, der sich vor 35 Jahren in Aiwangers Schulzeit ereignet haben soll. Wenn Aiwanger aufgrund dessen entlassen worden wäre, stellt sich die Frage, welchen Einfluss das auf unsere Kinder gehabt hätte. An dieser Stelle möchte ich betonen: Kinder sind Kinder, sie müssen ihre Reife erstmal ausbilden. Es gibt nicht ohne Grund ein Jugendstrafrecht und ein Erwachsenenstrafrecht. Und wer kann sich nicht an Aktionen aus seiner Kindheit erinnern, an die man sich eigentlich lieber nicht mehr erinnern möchte?

Die Schulzeit ist ein Ort des Auslebens von Grenzen; und der Grenzziehung durch Erwachsene. Dabei ist die Pubertät eine sehr spezielle Form des Rebellierens und Aufbegehrens. Und das ist auch ein wichtiger Prozess des Erwachsenwerdens: Jugendliche spalten sich ab, sie testen sich aus, und üben sich in Autonomie.

Wenn wir unseren Kindern und Jugendlichen nun indirekt beibringen, dass jedes Verhalten, jeder Satz, jedes Schriftstück zukünftig dazu führen könnte – 35 Jahre später – dass man seinen Job verliert, wie frei leben und entfalten sich unsere Kinder dann noch?

2. Blenden wir im Fall Aiwanger nicht den kulturhistorischen Hintergrund aus?

Oft wird darüber diskutiert, welchen Nutzen der in der Schule gelernte Stoff tatsächlich für unser Leben hat. Ein klassisches Beispiel ist die Gedichtinterpretation: Wozu brauchen wir das denn? Hätten wir doch lieber gelernt, wie die Steuererklärung funktioniert. Ich sehe das anders.

Meiner Ansicht nach ist es wichtig, dass wir begreifen, dass es kulturhistorische Hintergründe gibt, nach denen wir literarische Werke, Kunstwerke oder eben auch ein bestimmtes Verhalten oder Aussagen einordnen können.

Kurz gesagt: Shakespeare hat einen anderen Humor gehabt als Goethe und erst Recht als Aiwanger in den 80er Jahren und wir in 2023. Meiner Meinung nach vergleicht man Äpfel mit Birnen, wenn man z. B. Aussagen aus den 80ern mit dem heutigen Zeitgeist vergleicht. In den 80er Jahren waren Aussagen normalisiert, die wir heute vielleicht nicht mal mehr denken würden.

3. Wäre noch die Rehabilitierung von Menschen mit Fehlverhalten möglich?

Nehmen wir mal an: Aiwanger hat tatsächlich das Flugblatt verfasst. Sollte dann nicht sein Verhalten in der Gegenwart zählen?

Ansonsten wäre es auch nicht möglich, dass ehemalige Straftäter wie Vergewaltiger, Mörder oder Ex-Nazis wieder in die Gesellschaft aufgenommen werden. Was würde das für ein Zeichen senden? Rehabilitierung wäre nicht mehr möglich. Und es gäbe auch keine Motivation mehr für Menschen, sich zu ändern.

Neben diesen Gründen müssten sich einige Politiker selbst an die Nase fassen und sich fragen, ob sie noch tragbar wären. Die Affären der letzten Jahre, von gefälschten Dissertationen zum Steuerskandal bis hin zur Maskenaffäre und – ja die Liste ist lang – bieten genügend Entlassungspotential und lagen nicht 35 Jahre in der Vergangenheit. Für mich jedenfalls zählt das Leben im Jetzt, die gegenwärtigen Handlungen und Äußerungen eines Politikers.

Quellen

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