Einer ganzen Generation wird nachgesagt, dass sie beziehungsunfähig sei. Getrieben vom Drang nach Selbstoptimierung gepaart mit Bindungsängsten verharrt diese Generation angeblich in ihrem Single-Dasein. Doch was ist dran an der Generation Beziehungsunfähig? Und wie kann man eine erfüllende Beziehung führen?
Nur weil Paare heute im Durchschnitt nicht mehr so lange zusammenbleiben wie früher, heißt das nicht, dass wir beziehungsunfähig sind – ganz im Gegenteil, sagt die Psychologin Stefanie Stahl: „Die Ansprüche an die Beziehungsqualität sind gestiegen, deswegen trennt man sich heutzutage häufiger und das ist auch in Ordnung so”.
Auch eine langjährige Ehe sagt nichts über die Beziehungsfähigkeit aus, denn auch Verheiratete können unter Bindungsangst leiden. Wer mehr darüber erfahren möchte, dem empfehle ich das Buch von Stefanie Stahl: „Jeder ist beziehungsfähig”.
Von wegen verflixtes siebtes Jahr: Laut einer Langzeitstudie der Universität Stanford ist die Trennungswahrscheinlichkeit im ersten Beziehungsjahr am höchsten. Grund dafür sei die hormongeladene Verliebtheitsphase, auf die bei den meisten Paaren die Ernüchterung folgt. Plötzlich stört man sich an genau den Eigenheiten des Partners, die man bis vor kurzem noch spannend und inspirierend fand. Und es kommen Macken zum Vorschein, die wir bisher nicht kannten. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder wir beenden die Beziehung oder wir bleiben und lernen die wahre Liebe kennen.
Wahre Liebe ist bedingungslose Liebe. Doch wie erreicht man diese Form der Liebe? Auf der Suche nach Antworten beschäftigte ich mich mit verschiedenen Büchern und Podcasts von Psychologen und Paarberatern. Ich lernte: Aller guten Dinge sind vier.
Punkt 1: Bedingungen
Bedingungslose Liebe ist – wie der Name schon sagt – frei von Bedingungen. Die meisten Paarbeziehungen leben jedoch bedingte Liebe. Dabei ist Liebe an das Wort „wenn“ gebunden. Das heißt: Nur „wenn“ der Partner so ist, wie ich ihn mir wünsche, liebe ich ihn. Nur „wenn“ er meinen Vorstellungen entspricht, kann ich ihn lieben.
Die leider viel zu früh verstorbene Autorin und Pädagogin Vera Birkenbihl sagte sinngemäß dazu in der Sondersendung „Liebe“ des BR-alpha:
Bei der bedingten Liebe wird Liebe wie eine Währung betrachtet. Wie beim Geld bekommt jemand, der sich viel Mühe gibt, mehr Liebe und Anerkennung als jemand, der sich weniger Mühe gibt. Wenn man sich also gut verhält und die Erwartungen des anderen erfüllt, bekommt man mehr Zuneigung und Zustimmung, was das Ego des anderen stärkt. Das führt dazu, dass Liebe zu einer Währung wird, was in vielen Beziehungen deutlich zu sehen ist. Wahre Liebe bedeutet jedoch, den anderen bedingungslos anzunehmen, ohne zu verlangen, dass er sich ändert. Oft praktizieren wir jedoch eine Liebe, die besagt: „Ich liebe dich, wenn du bestimmte Erwartungen erfüllst”.
Punkt 2: Jeder tickt anders
Wir gehen davon aus, dass andere die Wirklichkeit genauso wahrnehmen wie wir. Doch das ist ein Trugschluss. Jeder von uns ist durch seine individuellen Erfahrungen geprägt und hat seine eigene Wirklichkeit im Kopf. Diese ist genauso wahr wie die Wirklichkeit des anderen. Wenn wir das nicht akzeptieren, sind Missverständnisse vorprogrammiert.
Verstehen wir, dass der Partner anders tickt, nehmen wir die Dinge nicht persönlich und stellen die Liebe nicht in Frage.
Der Autor, Single- und Paartherapeut Christian Thiel warnt im Podcast „The Real Word“ geradezu davor, unterschiedliche Sichtweisen zu diskutieren. Thiel sagt sinngemäß:
Es ist nicht so, dass das eine richtig und das andere falsch ist, wenn es beispielsweise darum geht, wann die Rechnungen bezahlt werden – der eine zahlt sofort, der andere lässt sie liegen. Wenn solche Themen in einer Partnerschaft diskutiert werden, geraten Paare oft in Streit, weil jeder seine eigene Vorstellung davon hat, wie die Dinge erledigt werden sollten. Es ist jedoch wichtig zu verstehen, dass die Partner verschieden sind und unterschiedliche Bedürfnisse haben. Zum Beispiel kann der eine ein Sicherheitsbedürfnis haben und früh am Flughafen sein wollen, während dies für den anderen keine Priorität hat. Es ist wichtig, Kompromisse zu finden, aber niemand muss dem anderen zeigen, dass er im Unrecht ist. Diese Diskussionen führen oft zu einem Grabenkrieg in der Partnerschaft, in dem die Liebe langsam verloren geht, weil man nicht versucht, den anderen zu verstehen.
Punkt 3: Nach der Akzeptanz folgt die Veränderung
Wenn ich möchte, dass sich mein Partner ändert, muss ich ihn so akzeptieren, wie er ist. Das klingt auf den ersten Blick kontraproduktiv, aber ständige Diskussionen über unterschiedliche Sichtweisen sind überhaupt nicht konstruktiv. Denn Druck erzeugt nur Gegendruck.
Oder wie Christian Thiel es sinngemäß ausdrückt:
Der erste Schritt in einer Partnerschaft besteht darin, die Unterschiede zwischen den beiden Partnern zu akzeptieren. Wenn diese Unterschiede nicht zu Konflikten führen, neigen die Partner dazu, sich im Laufe der Zeit anzupassen und einander anzugleichen.
Punkt 4: Erwartungen
Geprägt durch die kommerzialisierten Medien haben wir ein unrealistisches Bild von der Liebe entwickelt. Wer kennt nicht die Liebesromane, die uns vorgaukeln, dass der Partner für unser Glück verantwortlich ist? Nicht nur Tom Cruise erliegt mit seinem Filmzitat „Du vervollständigst mich.“ dem Irrtum, dass wir einen Partner brauchen, um ein ganzer Mensch zu sein.
Ist es nicht eine egoistische Forderung, wenn ich von meinem Partner verlange, nur das zu tun, was mir gefällt? Und wenn ich ihn mit Erwartungen überfalle, dass er mir jederzeit Sicherheit, Geborgenheit und Vergnügen bieten soll? Diesen hohen Anspruch kann kein Mensch erfüllen, und doch überstülpen wir ihn auf den einst so geliebten Menschen. Es ist ein Fehler, nur einen Menschen für unser Glück verantwortlich zu machen. Wenn beide Partner in der Beziehung eigenständige Menschen bleiben, brauchen sie einander nicht. Das ist ein weiterer Schlüssel zur bedingungslosen Liebe.
Bedingungslose Liebe macht frei und verurteilt nicht. Wenn wir uns mehr Liebe von anderen wünschen, fangen wir am besten bei uns selbst an. Wir können aufhören, uns selbst zu geißeln und anfangen, uns selbst der beste Freund zu sein, denn die wichtigste Beziehung in unserem Leben ist die zu uns selbst. Und wenn ich mich selbst nicht akzeptieren kann, kann ich auch andere Menschen nicht akzeptieren. Vera Birkenbihl sagt dazu sinngemäß:
Liebesfähigkeit ist erlernbar. Man kann sie üben und allmählich steigern, von Sekunden über Minuten zu Stunden. Man kann sich theoretisch immer wieder in das Gefühl verlieben, die Welt liebenswert zu finden, indem man sich bewusst dafür entscheidet. Ein guter Anfang sind kleine Übungen, wie zum Beispiel zehnmal am Tag jemandem ein Lächeln zu schenken. Am Anfang mag es schwierig sein, aber Sie werden sehen, wie sich die Reaktionen der Menschen verändern. Wenn ich Ihnen heute ein Lächeln schenke, konzentriere ich mich darauf, Ihnen Gutes zu wünschen, wenn wir uns im Flur der Firma begegnen. Wenn ich das über mehrere Tage wiederhole, werden Sie vielleicht eine Veränderung in unserer Beziehung spüren, ohne genau zu wissen, warum. Vielleicht fühlen Sie sich in meiner Gegenwart wohler und reagieren weniger aggressiv, wenn wir uns bei der nächsten Besprechung gegenübersitzen.
Quellen
- Michael Nast: Generation beziehungsunfähig, 2016
- Stefanie Stahl: Jeder ist beziehungsfähig, 2017
- stern.de: In diesem Beziehungsjahr trennen sich die meisten Paare
- penguinrandomhouse.de: Interview mit Stefanie Stahl
- youtube.com: Sondersendung „Liebe” mit Vera F. Birkenbihl
- Podcast „The Real Word”, Folge: Geld, Single-Dasein, Streitkultur – Paartherapeut Christian Thiel beantwortet EURE Beziehungsfragen!